Anne Franks Selbstbeurteilung in graphologischer Sicht

Het onderstaande artikel van Erhard W. Friess is afkomstig uit Graphologische Studienbuch dat door Beatrice Cossel is samengesteld. Het verscheen in 1966 bij het dipa-Verlag Kurt-Hesse Frankfurt am Main.
Er zijn vier stukjes handschrift in het artikel afgebeeld.

Nr. 1
Nr. 2
Nr. 3
Nr. 4

Die Tatsache, daß Anne Frank eines der weltberühmtesten Kinder geworden ist, wirft sogleich die Frage nach einem Vergleich mit anderen berühmten Kindern auf. Wenn wir dabei z.B. an Wolfgang Amadeus Mozart oder an Yehudi Menuhin in ihrer Kindheit denken, so wissen wir, daß diese außergewöhnlichen Musikerpersönlichkeiten bereits im Alter, in dem Anne ihr Tagebuch (das in allen Kultursprachen übersetzt worden ist) schrieb, aus eigener Kraft Aufsehenerregendes zustandebrachten.

Und Anne Frank? Da wird das Berühmtsein in ein teils begreifliches, teils aber deplaciertes Zwielicht gezogen. Ernst Schnabel stellt in seinem positiven Anne-Frank-Buch „Spur eines Kindes (Fischer-Bücherei, Frankfurt a.M. 1958) fest, kein einziger der befragten Zeugen habe darauf bestanden, daß Anne ein „Wunderkind" gewesen sei. Auch Annes erster Lehrer, Mijnheer van G., will nichts Wunderkindhaftes bei Anne entdeckt haben; er sagt aber auch: „In manchen Dingen war sie sehr reif, aber dafür in anderen auch wieder ganz ungewöhnlich kindlich. Gerade dieses Beisammen- und Vermischtsein von teils auffallender Reife und ungewöhnlicher Kindlichkeit habe ich in sämtlichen untersuchten Schriften von Wunderkindern feststellen und teils auch in persönlichem Kontakt mit solch begnadeten Menschen auf mich einwirken lassen können. Außergewöhnliche Kindlichkeit schließt also, wie vor allem das Beispiel Mozart zur Genüge beweist, Wunderkindhaftes nicht aus. Von den mehreren Tausend Kinderhandschriften, die ich in meiner langjährigen graphologisch-psychologischen Praxis analysiert habe, stehen die Schriftproben Anne Franks bezüglich eines weit überdurchschnittlichen Persönlichkeitsniveaus mit an der Spitze. Nur solche Kinder, die als eigentliche Wunderkinder gelten, können sich, alles Erfaßbare zusammengerechnet, mit Anne messen.

Ich habe sämtliche handgeschriebenen Seiten von Anne Franks weltberühmtem Tagebuch sowie auch ihrer publizierten „Geschichten aus dem Hinterhaus („Verhalen rondom het Achterhuis") unter der Lupe gehabt und stelle hier das Folgende fest:

Wenn ich mich als Berufsgraphologe über Anne Frank äußere, so sehe ich sie nicht nur als eine Art „Symbol des Guten in einer Epoche des Schreckens und der Finsternis" , sondern auch als ein Kinderphänomen, das nicht nur umständehalber berühmt geworden ist; es muß Betonung darauf gelegt werden, daß Anne aus eigener innerer Anlage heraus das Außergewöhnliche zustandebrachte, nachdem sie, wie andere Wunderkinder auch, von außen genügend reizvolle Anregungen erhalten hatte. Es handelt sich bei der 13-15jährigen Anne Frank um ein im Persönlichen schnell vorangekommenes Kind, das besonders hinsichtlich Selbst- und Mitmenschenbeurteilung sowie Weltbetrachtung weit über dem Durchschnitt der gleichaltrigen Schüler steht und hierin zweifellos etwas Wunderkindhaftes erreichte. Nicht umsonst äußerte der amerikanische Präsident Kennedy in einem Brief (1961) u.a.: „Keine Stimme hatte mehr Kraft als die der Anne Frank ... Ein Geschenk an die gesamte Menschheit ist es auch, von einem Kind, das zur Frau heranreift, die größte aller Wahrheiten zu empfangen ... " Der Friedens-Nobelpreisträger Père Dominique Pire schrieb 1958 in einem Brief, Anne Frank sei „ein tiefer Quell der Kraft". Und Berta Landre gab folgender Überzeugung Ausdruck: „Wenig Schriftstellern ist es bisher geglückt, Erlebtes aus dieser verworrenen Zeit so rund und plastisch zu gestalten, wie dem halben Kind Anne Frank... Zugleich ist es aber auch das Eindringlichste und Gültigste, was ein hochbegabtes, junges Menschenkind über sichselbst und die Schwierigkeiten, mit denen jeder junge Mensch auf seine Weise ringt, ausgesagt hat."

Bevor wir uns nun hier mit den wichtigsten Handschriftgegebenheiten Annes auseinandersetzen, welche wesentlichsten Bezug haben auf unsere Themastellung, lassen wir Anne Frank selbst sprechen und nehmen uns zu diesem Zweck zwei sehr bezeichnende Stellen aus ihrem Tagebuch vor; diese beiden Zitate werden dann sozusagen das Beleuchtungslicht bestimmen, das wir bei der gesamten Betrachtung von Annes Handschrift beibehalten wollen.

Am 15. Juli 1944 schrieb sie:
„Ich habe einen sehr hervorstechenden Charakterzug, der jedem auffällt, der mich kennt: meine Selbstkritik. Ich sehe mich in all meinen Handlungen, als wäre ich eine Fremde. Absolut nicht voreingenommen oder mit einem ganzen Pack Entschuldigungen stehe ich dann dieser Anne gegenüber und sehe zu, was sie Schlechtes oder Gutes tut. Diese Selbstbetrachtung läßt mich nie los, und bei jedem Wort, das ich ausspreche, weiß ich sofort, wenn es ausgesprochen ist: 'Das hätte anders sein müssen' oder 'das ist gut, so wie es ist' . Ich verurteile mich selbst in namenlos vielen Dingen und sehe immer mehr, wie wahr das Wort von Vater ist: 'Jedes Kind muß sich selbst erziehen'. Andere können nur Rat oder Anleitung geben. Die endgültige Formung des Charakters liegt in eines jeden Menschen eigener Hand. Dazu kommt, daß ich außergewöhnlich viel Lebensmut habe, und ich fühle mich immer so stark und imstande, viel zu ertragen, so frei und so jung! ... Vater tat alles, um mein Aufbegehren zu mäßigen, es nützte nichts; ich habe mich selbst geheilt, indem ich mir das Verkehrte meines Tuns und Lassens vorhielt."

Und zuvor, am 4. April 1944:
,, ... Ich will noch fortleben nach meinem Tode. Und darum bin ich Gott so dankbar, daß er mir bei meiner Geburt schon die Möglichkeit mitgegeben hat, meinen Geist zu entfalten und schreiben zu können, um alles zum Ausdruck zu bringen, was in mir lebt. Mit dem Schreiben löst sich alles, mein Kummer schwindet, der Mut lebt wieder auf. Aber, und das ist die große Frage: werde ich jemals etwas Bedeutendes schreiben, werde ich Journalistin oder Schriftstellerin werden können? Ich hoffe es, ich hoffe es von ganzem Herzen!"

Wenn wir nun zunächst darangehen, eine graphologisch-psychologische Prüfung der Selbstbeurteilungs- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. Dichtkunst) Anne Franks vorzunehmen, so halten wir die folgenden wesentlichsten graphologischen Schriftmerkmalgegebenheiten fest, und zwar in der Rangordnung, wie sie in bezug auf das gestellte Thema von besonderer Bedeutung ist. Wesentlichste graphologische Merkmalgegebenheiten der Handschrift Anne Franks:

1. Anne Frank beherrschte als 13-15jähriges Kind auf längste Strekken souverän drei verschiedene Schreibarten:
a) eine sehr spontane, frei schwebende Normal-Schreibart (durchs ganze Tagebuch hindurch), siehe Schriftprobe Nr. 1;
b) eine bei bester Konzentration an sich gehaltene Normal Schreibart, ohne Verkrampfung (Reinschrift der „Geschichten aus dem Hinterhaus und Titelblattgestaltung des Tagebuchs), siehe Schriftproben Nr. 2 + Nr. 3;
c) Eine gestaltungsvollele, bestens automatisierte "Blockschreibart", in leichtem Floß gleichmäßig durchhaltend, siehe Schriftprobe Nr. 4.
2. Die sehr souveräne Schreibweise Annes bezieht sich sowohl auf die Bewegungsführungen als auch auf die Formgebungen und die Raumbeherrschungen. Viele automatisierte Schriftgestaltungselemente Annes übertreffen sogar diejenigen mancher hochintelligenter erwachsener Personen.
3. Auffallend ist ein weit überdurchschnittlicher Bewegungs- und Verteilungsrhythmus (Gleichgewicht) der Schrift.
4. Von großer Bedeutung sind die außerordentlich zahlreichen klaren, sauberen, treffsicheren, ausgewogenen Schriftzüge in mühe-losem Ablauf. (Einzelne Schmierstellen fallen nicht ins Gewicht.)
5. Ziemlich vitalstarker, hervorragender dynamisch-rhythmisch-gespannter Schriftverlauf; überdurchschnittlich gute Horizontal- und Vertikalspannungen, auch in bestem Rhythmus verlaufend (höchst selten überspannt); auffallend gute Schreibmotorik (Aktiviertheit); mehr Rechts- als Linksläufigkeiten.
6. Erstklassige innere Harmonie der Schriftelemente. Fast alle Schriftgegensätzlichkeiten sind bestens integriertund wirken sich somit handreichend, konstruktiv-ausgleichend aus.
7. Viele gut integrierte sehr zarte, verhaltene, etwas weiche Schriftzüge.
8. Auch die etwas harten, straffen und scharfen Schriftzüge finden wir nie isoliert vor, sondern in bestem Einklang mit den anderen Elementen der Schrift.
9. Gute Verflochtenheit der Schrift, ohne schlimme Verklemmungen oder Blockierungen, sondern durchgehend mit gutem, sozusagen automatisch sich gebendem Schwung, also ohne Schleich- und Lötimpulse, und zwar auch dort, wo nur gemäßigtes Tempo zu verzeichnen ist. Als Ganzes gut verwurzelte und verankerte Schrift. (Siehe vor allem Schriftprobe Nr. 2).
10. Von größter Bedeutung innerhalb der relativ schnellen Schriftführung sind ferner die weit überdurchschnittlich guten, auch rasch vollzogenen leicht-flüssigenVerbindungen und Knüpfungen der Buchstaben.
11. Außerordentlich gute immaterielle Verbindungen (s.z.B. Schrift-probe Nr. 4, „Blockschrift").
12. Die Formgebungen sind vorwiegend aufs Wesentlichste, Zweck-mäßigste ausgerichtet, weichen größtenteils nicht in hohem Maße von der Schulvorlage ab, sind nicht extravagant, jedoch gleichwohl sehr individuell geprägt; sie sind ohne nennenswerte überflüssige Hinzufügungen, aber auch ohne bedeutende Verkümmerungen, obschon es teils erhebliche Abgeschliffenheiten bei sehr spontanen Aufzeichnungen im Tagebuch gibt. Ein überdurchschnittlichgutes Formniveauist besonders bei der Schrift-probe Nr. 4 auffallend; das Wort „Cady auf der siebtuntersten Zeileist ein hervorragend schönes Beispiel für souveräne Formgebung, erstklassige Proportionen des Buchstabenspiels: ein überragendes immaterielles Beziehungssystem wird hier eindrücklich veranschaulicht.
13. Hervorstechende Erhöhungen der g-Oberteile,also des Kopfes dieses Buchstabens.
14. Einzelne eigenwillige leichte Zwang- und Preß-Impulse, die z.B. in manchen D-Oberteilen eine nicht schulmäßige Druckverlagerung verursachen, ohne daß aber dadurch eine Störung des Schriftverlaufs entsteht.
15. Etwas betonte Ausschwingungen nach oben und unten in einheitlichem Zug (Ober- und Unterlängen). Es kommt keine Harmoniestörung des Gesamtschriftbildes zustande, obwohl es hier und da leichte Zeilenverstrickungen auf diversen Tagebuchseiten gibt.

Stützen wir uns auf diese wichtigsten Merkmalgegebenheiten in Annes Handschriften, so können wir schon eine Anzahl von den über 160 wesentlichsten Eigenschaften, die das Kind betreffend seinen eigenen Charakter im Tagebuch aufführt, graphologisch gutheißen, wobei betont werden muß, daß die bei Anne vorkommenden Widersprüchlichkeiten zur Gesetzlichkeit der menschlichen Natur im Pubertätsalter gehören; nicht umsonst erwähnt Anne an ihrem letzten Tagebuch-tag (1. August 1944), also ganz kurz vor ihrer Verhaftung und dem Beginn ihres schrecklichen Todesweges, selbst nochmals differenzierend ihr „Bündelchen Widerspruch"; sie unterscheidet dabei: „Widerspruch von außen und Widerspruch von innen".

Betreffend die Frage der Selbstbeurteilungsfähigkeit ist es von ganz sekundärer Bedeutung, ob jemand den Mut und die Intelligenz aufbringt, eine Anzahl negativer, also im bürgerlichen Sinne weniger akzeptable Charaktereigenschaften neben positive zu setzen und sich quasi selbst anzuschwärzen, zu verurteilen - geschehe dies nun im engeren Familienkreise oder gar öffentlich. Von primärer Bedeutung ist vielmehr, ob jemand imstande ist, auf möglichst hochdifferenzierteWeise die sogenannten „schlechten" mit den sogenannten „guten" Eigenschaften in Beziehung zu setzen und zudem möglichst viele Umständefaktoren dabei zu berücksichtigen. Dieser hohen Forderung hat Anne Frank in ihrem Tagebuch an vielen Stellen in derart eindrücklichem Maße entsprochen, daß wohl jeder gerechtdenkende Leser, der beruflich und privat zahlreiche Vergleiche ziehen kann, aus dem Staunen nicht herauskommt. Mag sein, daß die 13-15-jährige Anne manch eigene Verhaltensweisen sowie solche einiger Mitmenschen (vielleicht vor allem der Mutter) etwas zu streng beurteilt hat. Da nun aber die Umständegegebenheiten (wie z.B. Lebensbedingungen, Milieu usw.) in jeder charakterologischen und psychologischen Praxis bei einer objektiven Bewertung der Fälle oft eine fast mindestens so große Rolle spielen wie die Charaktereigenschaften selbst, bleiben meistens einige Fragen des kritischen Begutachtens unbeantwortet.

Abschließend folgt hier nun eine psycho-graphologische Begutachtung der Handschriftenproben Anne Franks, mit besonderer Berücksichtigung der Frage betreffend die Selbstbeurteilungsfähigkeit des Kindes.

Psycho-graphologisches Gutachten


1 . Innere Charakter- und Wesensstruktur, Charakterfundament:
Hervorragend gute charakterliche Substanzgegebenheiten machen sich geltend, die verschiedenen, teils gegensätzlichen Elemente sind bestens miteinander verbunden und bilden ein rhythmisch-bewegtes, nicht labiles Ganzes in guter Geordnetheit; die einheitlichen Züge sind also gegenüber den disharmonischen in betontem Maße dominierend. Eine gut-mittlere Vitalkraft und dynamische Charaktermotorik stehen der vorwiegend feingearteten, wesenstiefen und hochdifferenzierten jungen Schrifturheberin zur Verfügung. Das Charakterfundament ist somit stabil. Mit den zarten femininen Gegebenheiten vermischen sich auch leicht betont masculine.

2. Psychische Veranlagung:
Eine hochgradige Sensibilität wird durch die oben erwähnten starken charakterlichen Substanzelemente gestützt. Die seelisch leicht erregbare Schrifturheberin ist vielen Spannungen ausgesetzt, behält jedoch meistens eine gute psychische Widerstandskraft. Das weitgehend geordnete Seelensystem kann als gesund bezeichnet werden.

3. Weitere Eigenschaften, Verhaltensweisen:
Die sehr empfindsame, eindrucksfähige Schrifturheberin ist in betontem Maße auf Aktivität ausgerichtet. Die Handlungsweisen halten sich an ein ganz bestimmtes Anlagegesetz, das innigst mit dem geordneten Charakterhaushalt verbunden ist. Positive und negative Reize von außen erwecken in der Schrifturheberin leicht eine Unruhe; doch es kommt nicht zu einem chaotischen Ablauf des so sehr motorischen Charakters. Das recht gute innere Gleichgewicht und eine hervorragende Steuerung ermöglichen eine straffe Disziplinhaltung in den wichtigsten Lebensmomenten und auch sonst in vielen heiklen Situationen. Die große Gefühlskraft und das jugendliche Temperament geraten mit manchen inneren und äußeren Anfechtungen in Konflikt; es kommen Spannungen, leichte Überspanntheiten und sozusagen „wie von selbst" Reibereien mit der Umwelt zustande (d.h. wenigstens mit einem Teil davon); dabei bäumt sich ein betontes, vorwiegend gut fundiertes Uberlegenheitsgefühl auf und bringt eine anführerische Note ins Ganze. Zufolge der reichhaltigen Intensität werden die von der Umwelt und vom Ego gesetzten Grenzen oft nur teilweise genügend respektiert. Aber dank einer hervorragenden Wesenssauberkeit und weitgehend lauteren Grundeinstellung zeichnen sich die meisten Durchsetzungswilligkeiten aus als in Verbindung stehend mit etwas Ethischem, Offenherzigem, Aufrechtem, Aufrichtigem. Sehr oft macht sich dabei ein ausgesprochener Gestaltungs- und Formungswille bemerkbar; derselbe wird auch angetrieben durch eine enorme Erwachsenseinshungrigkeit, ohne daß deswegen beste Kindlichkeitszüge verlorengehen; denn Anne Frank ist auch als Kind eine durch und durch echte Persönlichkeit, also alles andere als eine Blufferin. So sehr eigenwillig sie oft und oft auftritt, so selbstkritisch begegnet sie ihrem Ego und weist aufkommende Übertreibungen in die Schranken, ohne dabei ihre starke Natur und schöne Natürlichkeit zu verleugnen. Die junge Schrifturheberin ist erziehungswillig im wahrsten Sinne des Wortes; sie ist sich darüber im Klaren, daß dieser betonte Wesenszug bei ihr keinesfalls mit Unterordnungswilligkeit befreundet ist; es handelt sich vielmehr darum, so streng mit sich selbst zu sein, daß keine Strenge von seiten der Betreuer mehr nötig ist. Und die vorhandene Fröhlichkeit wird oft souverän als Dienerin der eigenen Strenge eingesetzt; dadurch werden die Härtebereitschaften in vielen Situationen vermindert, derart, daß es nicht nur Platz für reine Freundlichkeiten gibt, sondern auch für herzliche Kameradschaftlichkeiten gegenüber hilfebedürftigen Mitmenschen. Ja, bei einer solch gearteten Strenge gegen sich selbst, die getragen wird u.a. von Gewissenstreue und Glaubensfestigkeit, drängt sich ein Kompensationszug in Richtung auf das Soziale geradezu auf, dies um so mehr, da die Schrifturheberin über beste Beobachtungsgabe verfügt und sehr aufmerksam ist. Und weil sich zu all dem eine schöne Besinnlichkeit gesellt, in Verbindung mit Naturhaftigkeit und Naturliebe, erhält das hohe Verantwortungsbewußtsein eine besondere Menschlichkeitsnote.

4. Entwicklung und Reife des Charakters:
Die bisherige Entwicklung ist natürlich, geordnet, normal verlaufen. Die Möglichkeiten der Weiterentwicklung sind sehr gut, vor allem im Sinne von zunehmender Bereicherung des Charakters.

5. Intelligenz,Geistesbeschaffenheit:
Eine überdurchschnittliche, hochdifferenzierte, sehr bewegliche und einfühlungsfähige Geistespotenz steht der intelligenten jungen Schrifturheberin zur Verfügung. Vonseiten der guten geistigen Disziplin kann viel erwartet werden. Die Urteilsfähigkeit zeichnet sich durch Geordnetheit, Klarheit, Exaktheit, reiche Beziehungsweisen, eine überragende Selbständigkeit, weitgehende Objektivität und Mut aus; kleine Fehleinschätzungen sind aber doch nicht ausgeschlossen. Eine weit überdurchschnittliche souveräne Darstellungsfähigkeit ist unverkennbar; dieselbe stützt sich auf eine gute Balance zwischen einer besonderen Phantasieansprechbarkeit und einer zwingenden Logik.

6. Eignung:
Somit besitzt Anne Frank charakterlich und hinsichtlich der Intelligenz und Geistesbeschaffenheit denkbar gute Voraussetzungen, um Charakterbeschreibungen (Eigen- und Fremdcharakter) sowie Lebensdarstellungen weitgehend objektiv und mit imponierender Prägnanz zu produzieren.

Erhard W. Friess

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